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Der IT-Ausblick 2022Ein weiteres Jahr voll spannender, teilweise mühsamer, jedoch immer auch sehr interessanter Ereignisse geht zu Ende. Ueli wagt in diesem Beitrag einen Ausblick, was wir von der IT im 2022 erwarten dürften.
Eine Person im Rollstuhl benutzt die Bahn: Die Person kann mit einer App oder tiefergelegtem Billetautomat spontan ein Billett lösen. Sie gelangt mit Rampen oder einem Lift auf den Bahnsteig und kann dank Niederflur-Waggons selbstständig in den Zug steigen und wieder aussteigen.
Das klingt selbstverständlich, doch die Realität ist anders. In dieser müssen sich Rollstuhlfahrer teils beim ÖV-Betreiber voranmelden und, je nach Zugkomposition, mit einer Hebebühne in den Wagon gehoben werden. Spontan anderswo aussteigen? Eher schwierig. Das ist ein Beispiel von vielen.
Und ein Billett lösen? Das zumindest klappt in der Schweiz ziemlich gut, da es für Staatsbetriebe rechtliche Auflagen gibt, welche die Barrierefreiheit von digitalen Diensten gewährleisten. Damit stehen sie aber weit alleine da. Das ist problematisch.
Ob Menschen mit einer körperliche oder physische Einschränkung, Lernbehinderung oder Lernstörung, Sie alle treffen tagtäglich auf Barrieren. Und zwar auch beim Benutzen von Software, insbesondere dem Web. In der Schweiz betrifft das bis zu 1,7 Millionen (ca. 20 %) Menschen, weltweit ca. 1 Milliarde Menschen. Sie sind darauf angewiesen, dass digitale Angebote so umgesetzt sind, dass sie mit oder ohne zusätzliche Hilfsmittel ihre Aufgaben erfüllen und an Informationen gelangen können.
Das WebAIM Million Projekt untersucht in regelmässigen Abständen 1 Million Webseiten. Kurz und knapp finden sich im Durchschnitt rund 51 Fehler pro Webseite, welche die Barrierefreiheit einschränken.
Die Schweizer Accessibility-Studie Onlineshops der Stiftung Zugang für alle zeigt alle paar Jahre den Stand der Schweizer Online-Shops in Bezug auf Barrierefreiheit. Nur «10 von 41 Onlineshops» sind für Menschen mit einer Behinderung «gut bis sehr gut nutzbar».
Diese Ergebnisse sagen vor allem eines: Der Aufwand, an Informationen zu kommen oder einen Online-Dienst zu verwenden, ist für eine Person mit einer Behinderung riesengross. Wenn diese Person einen Artikel im Internet bestellen oder eine Versicherung via Online-Formular abschliessen möchte, wird es schwierig ohne fremde Hilfe.
Weiter schliessen Firmen und Institutionen, welche bei der Umsetzung nicht auf die Barrierefreiheit achten, potenziell 20 % der Menschen aus, bewusst oder unbewusst.
Blinde Menschen haben es besonders schwer.
Ein Beispiel: Wer blind ist, nutzt mit grosser Wahrscheinlichkeit einen Screenreader. Das ist ein Programm, das vorliest, was der Bildschirm des Gerätes gerade anzeigt. Apple (VoiceOver) und Google (TalkBack)
haben diese Funktion direkt ins Betriebssystem integriert und sie kann in den Einstellungen aktiviert werden.
Wenn nun eine Webseite nicht barrierefrei umgesetzt ist, erkennt dieser Screenreader nicht alle Elemente korrekt. Beispielsweise sagt das Programm, dass ich gerade ein Bild fokussiert habe, jedoch wurde keine Beschreibung zu diesem Bild hinterlegt. Eine blinde Person kann also nicht wissen, was das Bild aussagt.
Oder die Person möchte ein Menü aufklappen, beispielsweise einen Filter für eine Artikelliste in einem Online-Shop. Doch weil dieser nicht gut umgesetzt ist, sagt das Programm nicht, ob der Filter aufgeklappt oder zugeklappt ist. Oder nicht einmal, dass es einen Filter gibt.
Ein weiteres Beispiel: Eine Person, welche die Maus nicht benutzen kann. Sie ist auf die Tastatur angewiesen. Standardmässig kann sie mit Tabulator zum nächsten, und mit Shift+Tabulator zum vorherigen fokussierbaren Element auf einer Webseite springen. Nun sind aber Informationen in einer Bildergalerie so eingebaut, dass der Mauszeiger über ein Bild navigiert werden kann, welches dann Informationen zum Bild anzeigt. Die Person wird diese Informationen nicht sehen, da das Bild weder mit der Tastatur fokussiert werden kann, noch auf den Tastaturfokus reagieren würde.
Selbst wenn nicht die korrekte Sprache im Code der Webseite hinterlegt ist, hat ein Screenreader Probleme beim Vorlesen. So versucht dieser dann eine Webseite mit einem englischen Akzent zu deuten, obwohl die betroffene Webseite auf Deutsch wäre.
Eine Internetseite oder Applikation ist dann barrierefrei, wenn sie uneingeschränkt nutzbar ist, unabhängig davon, ob ich blind oder gehörlos bin, ob ich Maus, Tastatur, «Touch» oder ein anderes Eingabegerät verwende, ob die Sonne direkt auf meinen Bildschirm scheint und den Kontrast einschränkt, ob mein Bildschirm gross oder klein ist, oder ob ich meinen Webbrowser auf 300 % Zoom-Stufe eingestellt habe. Es bedeutet, sich bewusst zu sein, welche Formen von Einschränkungen es gibt und das bei der Umsetzung miteinzubeziehen.
Das bedeutet aber auch, dass dein Angebot vermutlich von potenziell bis zu 20 % der Menschen in der Schweiz gegenüber anderen Optionen bevorzugt wird, wenn du dich in einer Branche bewegst, in der es schlecht um die Barrierefreiheit steht. Das Beispiel der Studie über Online-Shops zeigt sehr gut, dass auch die grössten Anbieter in der Schweiz, wie Digitec oder die Swisscom, massive Mängel in ihren Plattformen haben.
Richtlinien zur Barrierefreiheit im Web sind in den seit 20 Jahren existierenden «Web Content Accessibility Guidelines (WCAG)» definiert. Diese kommen mit drei Konformitätsstufen: A, AA, AAA, wobei letztere die Strengste ist.
Seit 25. Juni 2020 gilt für Angebote der öffentlichen Hand in der Schweiz der E-Government Standard eCH-0059, welcher sich auf WCAG 2.1 Konformitätsstufe AA stützt.
Falls dein Projekt erst in die Umsetzung geht, halte dich an WCAG AA und teste das Projekt in regelmässigen Abständen oder bei grösseren Änderungen durch einen Screenreader-Benutzer. Damit deckst du ein grosses Spektrum an möglichen Mängeln ab.
Falls dein Projekt bereits umgesetzt ist, empfiehlt sich ein kurzes Audit, mit dem sich die einfachsten zu beseitigen Mängel, welche meist den grössten Einfluss haben, herausheben lassen. Diese können meist in kurzer Zeit behoben werden und oft gewährleisten, dass deine Anwendung oder Webseite einigermassen verwendbar ist.
Bei gröberen Mängeln, die bis zur Unbenutzbarkeit der Anwendung oder Webseite reichen, ist eine spätere Beseitigung meist sehr kostspielig. Oft kommst du nicht drumherum, die komplette Benutzeroberfläche neu programmieren zu lassen.
Deswegen gilt: Barrierefreiheit von Anfang an andenken.
Ja. Beispielsweise, du bist Fotograf:in und zeigst auf deiner Webseite deine Fotos. Auch wenn eine Person diese nicht sieht, heisst das nicht, dass diese sich nicht für deine Arbeit interessiert. Du, als Betreiber:in der Webseite hast die Möglichkeit, mit geringem Aufwand die Bilder für eine blinde Person zu beschreiben. Damit ermöglichst du den Zugang für alle.
Falls du noch mehr Gründe benötigst:
Barrierefreiheit darf keine Option sein. Nicht im World Wide Web.
The power of the Web is in its universality. Access by everyone regardless of disability is an essential aspect.
Dieses Zitat stammt von Tim Berners-Lee, dem Erfinder des World Wide Webs. Lass uns dieser Vision folgen.
Zum Autor: René Stalder ist freischaffender Webentwickler. Er entwickelt seit rund 20 Jahren die Benutzeroberflächen für Webseiten. Seit 2017 hat er seinen Fokus auf die Barrierefreiheit von Webapplikationen und Webseiten gerichtet und versucht Firmen, Entwickler:innen und Designer:innen dabei zu unterstützen, bessere Entscheidungen zugunsten der Barrierefreiheit zu treffen. Unter anderem wirkt er bei der Entwicklung des Accessibility Developer Guides
Fotos von Daniel Ali und Glenn Carstens-Peters
Ein weiteres Jahr voll spannender, teilweise mühsamer, jedoch immer auch sehr interessanter Ereignisse geht zu Ende. Ueli wagt in diesem Beitrag einen Ausblick, was wir von der IT im 2022 erwarten dürften.
Ein kleines Update oder ein überschaubares, neues Feature einzubauen, klingt meist nach einer kleinen Sache. Auch das Testing dieser Anpassung…